Laufverletzungen hausgemacht

… oder alles eine Frage der Technik?

Laufverletzungen sind ein häufiger Konsultationsgrund in der sportärztlichen Praxis. Dabei sind westliche Läufer mit den modernsten und innovativsten Schuhen der Sportindustrie ausgestattet und tragen z. T. hochmoderne Einlagen. Im Falle von Verletzungen werden sie von professionellen Physiotherapeuten versorgt, die Verletzungen brechen allerdings häufig wieder auf und zwingen dann den ein oder anderen Athleten zum Karriereende.

Bei der Ursachenforschung von Laufverletzungen sind wir im Rahmen unserer sportärztlichen Tätigkeit auf Daniel E. Lieberman gestossen. Der leidenschaftliche Läufer, Paläoanthropologe und Lehrstuhlinhaber für Evolutionsbiologie des Menschen (Chair of the Department of Human Evolutionary Biology) an der Havard University in Cambridge USA forscht unter anderem über die Biomechanik des Laufens.

Nach seinen Erkenntnissen hat das Laufen auf zwei Beinen die Evolution des Menschen entscheidend verändert. Erst der aufrechte Gang hat alle unsere anderen Vorzüge ermöglicht, z. B. komplexes Denken, Teamarbeit, Werkzeuggebrauch und Sprache. Der Mensch ist zum Laufen gemacht. Unsere Art zu laufen ist einzigartig in der Natur. Daneben ist der Mensch der beste Langstreckenläufer der Erde, somit ist es normal täglich 9 bis 15 Kilometer zu Fuss zu gehen oder zu laufen. Naturvölker tun dies auch heute noch ohne sich andauernd zu verletzen. Bei der Fülle der Laufverletzungen unserer modernen Läufer (z.B. Achillessehnenprobleme, Knieschmerzen z.B. Runners Knee, Shin Splint-Syndrom, Plantarfasziitis, Ermüdungsbrüche …etc., haben wir uns in unserer Sportpraxis die Frage nach dem „WARUM“ gestellt.

Sind Naturvölker besser trainiert, haben sie andere genetische Voraussetzungen, haben Sie einen festeren Sehnen-/Bandapparat, ernähren Sie sich anders oder liegt es an deren  Lauftechnik?

Sicherlich spielen viele Faktoren eine Rolle. Bei der Ursachenforschung haben wir uns einmal mit dem Thema Biomechanik und Lauftechnik beschäftigt und dabei sind uns einige Dinge aufgefallen. Naturvölker laufen primär ohne Schuhe, also barfuss. Menschen in Afrika trainieren somit ihre Füsse von Kindesbeinen an, ihre Füsse sind flexibel. Im Gegensatz dazu haben westliche Athleten Schuhe an. Ihre Füsse sind steifer und können sich dem Untergrund weniger gut anpassen. Der moderne Läufer hat durch diese Umstände einen schlechter trainierten Fuss und dabei ist der Fuss doch das Körperteil, das für das Laufen am wichtigsten ist. Barfuss laufende Menschen müssen auch eine andere Technik laufen als ein Läufer mit einem modernen Laufschuh, denn sie können nicht auf der Ferse landen. Dies hat uns der moderne Laufschuh mit seiner bequemen Dämpfung erst ermöglicht!

Auf der Suche nach Lösungen sind wir auf die Lauftechnik der „Pose Method®“ gestossen, eine Technik, die dem natürlichen Laufen aus der Evolution sehr nahe kommt.

Mittlerweile haben wir uns zu Lauftechniktrainern nach Pose Method®-Standard ausbilden lassen und haben in diesem Artikel die brennendsten Fragen, die uns tagtäglich als Sportmediziner in unserer Praxis beschäftigen und die uns mit unserem Ausbilder Wieland Heiser, Head-Coach bei Pose Method® Europe, zusammengebracht haben, einmal zusammengefasst.

 

Wieso ist Lauftechnik so wichtig?

Mit der richtigen Lauftechnik kann ich auf dem Vorfuss (Fussballen) landen, die körpereigenen Dämpfungssysteme nutzen und somit effizienter laufen und Verletzungen vorbeugen.

 

Warum ist das Landen auf dem Vorfuß so wichtig?

Das Landen auf dem Vorfuss ist das natürliche Aufkommen des Fusses auf dem Boden.
Schaut Euch einen Seilspringer oder barfuss laufende Kinder an, sie landen instinktiv auf dem Vorfuss und die Ferse ist nur minimal über dem Boden oder setzt  sogar kurzzeitig auf. Jeder, der die Schuhe auszieht und einige Meter läuft, landet auf dem Fussballen. Das können wir in jedem unserer Seminare beobachten.

 

Worin besteht der biomechanische Vorteil?

Beim Fersenaufsatz erfahren wir einen Stoss, der in 7-10 ms vom Fuss bis in den Kopf über die Knochenstrukturen weitergeleitet wird. Der Schuh dämpft den Aufprall „scheinbar“ ab, somit erfährt der Läufer kein Schmerzsignal (der Wahrnehmungs-Reflex bleibt aus). Der Stoß trifft allerdings alle Gelenke bis in die Halswirbelsäule. Je stärker der Schuh gedämpft ist, desto weniger Gefühl haben wir dabei im Fuß und desto weniger nehmen wir die Aufprall- und (Scher-)Kräfte im restlichen Körper als fehlerhaft wahr.

Ein Fersenaufsatz bedeutet in der Regel auch eine größere Schrittlänge und dadurch eine längere Bodenkontaktzeit. Die Aufprallenergie wirkt also länger auf unseren Körper ein. Stösse bedeuten Belastung für Gelenke und Knorpel, längere Bodenkontaktzeiten bedeuten lange Zugbelastungen auf die Muskeln, Sehnen und Bänder sowie ungünstige Scherkräfte auf die Achillessehne und Tibia-Strukturen. Bedingt wird dies durch den hohen Schuhaufbau (Dämpfungselemente meist aus EVA-Schaum) sowie der „Sprengung im Schuh“ und dem daraus resultierenden Hebel.

Beim Laufen auf dem Fussballen (mit abgesenkter Ferse) hingegen nutzen wir natürliche Dämpfungselemente, die in unserem Fuss/Unterschenkel eingebaut sind. Das belastete Fussgewölbe wirkt wie eine Feder und bringt 17% der Energie des Körpers zurück. Die Achillessehne wirkt ebenfalls wie eine Feder, die bei jedem Laufschritt vorgespannt wird. Elastische Energie wird somit gespeichert und bei jedem Schritt zurückgegeben. Im Falle der Achillessehne werden sogar 35% der Energie des Körpers elastisch zurückgegeben. Das ist kostenlose Energie, die wir nutzen können und nennt sich Sehnen-Faszien-Elastizität.

 

Läuft ein Läufer nach Pose Method® effizienter?

In der Tat. Wir nähern uns mit der Lauftechnik von Pose Method® dem natürlichen, instinktiven Laufen wie wir es bereits als Kinder praktiziert haben!

 

Bedeutet „natürliches Laufen“ gleich „effizientes Laufen“?

Ja, denn Naturvölker müssen sich eine effiziente Lauftechnik aneignen, sonst würden sie ihr Laufpensum auf Dauer ohne Verletzung und Überlastung nicht schaffen.

 

Wie muss ich mir diese Lauftechnik vorstellen?

Wir befreien die herkömmliche Lauftechnik von unnötigen Bewegungselementen wie z. B. Fersenaufsatz, aktives Anheben des Schwungbeins oder „greifender Schritt“. Diese Vorgänge bremsen eine effektive Vorwärtsbewegung ab. Weiterhin verzichten wir auf einen aktiven Abdruck des Standbeines, da das Bein in der Abdruckphase (hinten) nicht mehr belastet ist, also kein Körpergewicht im Moment der Aktion mehr nach unten wirkt. Ein nicht belastetes Bein kann keinen effizienten Abdruck nach vorne bringen, dieser Vorgang ist reine Energieverschwendung!

 

Bildquelle • by Romanov Academy [PoseMethod.com]

 

Studie: Extensor’s Paradox Experiment

Quelle: „BIOMECHANICS OF DISTANCE RUNNING“, Human Kinetics Books, 1990. Chapter 6. Muscle Activity in Running.

The Extensor Paradox Experiment by Irene S. McClay, Mark J. Lake, Peter R. Cavanagh

 

Die Studie aus dem Jahr 1990 vom „Extensor Paradox Experiment“ von Irene S. McClay, Mark J. Lake und Peter R. Cavanagh besagt, dass in dem Moment, wenn der Stützfuss den Boden verlässt, kein Körpergewicht mehr auf diesem Punkt lastet. Die Oberschenkel-Streckmuskulatur wird bereits inaktiv, wenn sich nur noch etwa 30% des Körpergewichts auf dem Stützfuss befinden. Der „Extensor“ hat seine max. Aktivität während der Lande- und Stabilisierungsphase, wenn sich der Körperschwerpunkt genau über dem Bodenkontaktpunkt (SUPPORT) befindet, d.h. er stabilisiert die (Lauf-)Bewegung und hält den Körper im Gleichgewicht, ist jedoch für den „vermeintlichen aktiven Abdruck“ nicht mehr aktiv!

 

Wie beschleunigt ein Läufer mit der Lauftechnik nach Pose Method®-Standard?

Mit der Schwerkraft! Wir kennen alle das Prinzip des „rollenden Balls auf der schiefen Ebene“ aus dem Physikunterricht (Newton’sches Gesetz).

 

Wie soll man sich das vorstellen?

Ein Läufer lässt den Körperschwerpunkt (GCM) nach vorne fallen – diese Bewegung bedarf sehr wenig Energieaufwand. Wenn sich Körperschwerpunkt und Fussaufsatzpunkt (SUPPORT) auf einer Linie (Schwerkraftlinie) befinden, dann stehen wir im Gleichgewicht und es entsteht keine Bewegung. Wird der GCM über den SUPPORT nach vorne „verschoben“, dann fallen wir und es entsteht eine Beschleunigung des Körpers in Laufrichtung (vorwärts).

 

Heisst das, mit der Pose Method®-Lauftechnik kann man schneller laufen?

Ja, das Fallen erfordert wenig Energieaufwand, somit kann ein Läufer effizient(er) und schnell(er) laufen. Weltklasse-Athleten (sogenannte „Naturtalente“) laufen nach unseren Untersuchungen intuitiv mit einem grösseren Fallwinkel als Hobby-Läufer.

 

Bildquelle • by Romanov Academy [PoseMethod.com]

 

Beschleunigung ist nicht alles – Du sprichst von Reduktion – welche Technikelemente bleiben übrig?

Das sind drei Elemente – wir nennen sie POSE – FALL – PULL.

 

Bildquelle • by Romanov Academy [PoseMethod.com]

 

„POSE“ heisst Position, diese durchlaufen alle Läufer, egal ob Fersen- oder Vorfussläufer – sie ist die Schlüsselposition der Laufbewegung!

„FALL“ heisst nach-vorne-fallen und dabei nicht in der Hüfte abknicken, sondern den Oberkörper aufrecht halten und den Körperschwerpunkt nach vorne verschieben, damit nutze ich die Schwerkraft optimal aus und beschleunige in Laufrichtung vorwärts.

„PULL“ bedeutet das schnelle Hochziehen der Fusses unter die Hüfte/Gesäss  (Körperschwerpunkt/Sitzbeinhöcker) – kein zusätzlicher Abdruck nach hinten und auch kein aktives Knieheben über die Hüftbeuger.

 

Welches sind die Vorteile dieser Technik?

Durch das PULLING unter die Hüfte/Gesäss bleibt mein Fuss unter dem Körperschwerpunkt und ermöglicht es mir nach vorne zu fallen und die Schwerkraft voll auszunutzen. Wenn ich das Stützbein (SUPPORT) im Gegensatz dazu abdrücken würde, müsste ich in der Hüfte leicht nach vorne abknicken, um die Balance aufrecht zu halten. Das würde mich wiederrum abbremsen. Das Fallen bringt mir die Beschleunigung nach vorne, wo ich hin will. Dadurch laufe ich schneller mit weniger Energieaufwand und nutze dafür die externe Energie der Schwerkraft. Da ich auf ein aktives nach vorne Schwingen des Beines verzichte, landet mein Fuss wieder nahe unter dem Körperschwerpunkt auf dem Fussballen und kann die oben genannte Sehnen- und Faszienenergie des Fussgewölbes und der Achillessehne nutzen. Dadurch laufe ich effizienter.

 

Was bedeutet dies in Bezug auf Verletzungen?

In einer der ersten Studien wurde bereits nachgewiesen, dass Laufen nach Pose Method®-Standard bis zu 50% weniger Belastung für die Kniegelenke bedeutet. („Reduced Eccentric Loading of the Knee with the Pose Method® of Running“ – Published Studies).

 

Bildquelle • by Romanov Academy [PoseMethod.com]

 

Anmerkung zum Bild:

„Midfoot“ bedeutet  Vorfuss/Fussballen – nicht etwa „Mittelfuss“, wie im umgangssprachlichen oft benutzt!

 

Bedeutet das, dass ein verletzungsanfälliger Läufer von Pose Method® profitiert?

Ja, auf jeden Fall. Er müsste allerdings bereit sein, die Lauftechnik konsequent und korrekt zu lernen und regelmässig Kraft- und Flexibilitätsübungen für seinen Körper in sein Training sowie Lauftechnik-Übungen integrieren. Dazu gehören nicht nur die Beine, wir benötigen auch einen starken Rumpf und einen lockeren Oberkörper – das ist ein Ganzkörpertraining.

 

Wie lange dauert der Umstellungsprozess?

Ein Läufer benötigt ca. 4-6 Monate, um diese Lauftechnik gut umzusetzen und um wieder auf altem (Wettkampf-)Niveau an den Start zu gehen.

 

Kommen wir noch einmal auf den Vorfußlauf zu sprechen – bedeutet dies auch, wir könnten mit einem minimalistischen Laufschuh laufen?

Prinzipiell ja, denn wir landen nicht mehr auf der Ferse und die Schuhe müssen keinen Aufprall mehr abdämpfen. Wir landen auf dem Fussballen und nutzen die „kostenlose“ Sehnen-Faszienelastizität.

 

Heißt das, ich könnte auch auf Einlagen verzichten?

Prinzipiell wäre das anzustreben, da ich ja die Federenergie des Fussgewölbes nutzen möchte. Diese nutze ich durch die Landung auf dem Fussballen in Verbindung mit einer höheren Schrittfrequenz (ein Pose Method®-Läufer läuft mit einer Schrittfrequenz von mindestens 180 Schritten/Minute oder mehr). Voraussetzung für das Weglassen der gewohnten Einlagen ist allerdings auch das oben beschriebene sehr regelmässige Kräftigungs- und Flexibilitätstraining für die unteren Extremitäten!

 

Bedeutet dies, das wir auf Dauer auf gedämpfte Schuhe und Einlagen verzichten können?

Ja, denn Einlagen und moderne Laufschuhe schwächen die Füsse, das kann ich Dir als Trainer bestätigen. Und ein Läufer braucht einen starken Fuss, denn der Fuss ist das Fundament des Laufens.

 

Fazit zu Laufverletzungen

Laufverletzungen sind bei Läufern der modernen Leichtathletik bis hin zum Ultraläufer ein grosses Problem und beschäftigen eine grosse Anzahl von Therapeuten. Dabei stellte sich für uns als Sportmediziner immer wieder die Frage nach dem „WARUM“. Das Problem ist sicher vielschichtiger Natur. Allerdings zeigt sich bei der Betrachtung der Evolution und der Besonderheit des menschlichen Körpers, der zur Ausdauerjagd gebaut ist, in Zusammenhang mit den gut trainierten Körpern der Naturvölker, dass wir gegen ein hausgemachtes Problem kämpfen und mit unserer bisherigen Therapie (weichere und komfortablere Laufschuhe, Einlagen … etc.) am falschen Ende therapieren und das Problem des schwachen Fusses eher verstärken.

Ziel sollte es sein, mit einer effizienten Lauftechnik und den richtigen Kräftigungs- und Flexibilitätsübungen einen starken Körper zu trainieren, der den üblichen Laufbelastungen gewachsen ist.

 


 

Die Autoren

Dr. med. Thomas May | Allgemein- und Sportmediziner aus Lahr im Schwarzwald, sowie Spezialist in Chirotherapie und Notfallmedizin und Pose Method® Certified Running Coach • www.Praxis-Dr-May.de

 

 

 

Wieland Heiser | Head-Coach und Ausbilder der Pose Method® für den europ. Raum – einem (Lauftechnikstandard-) Modell und -Methodik, um das richtige, funktionelle, effiziente und verletzungsfreie Laufen zu erlernen und zu unterrichten • www.Mastering-Movement.eu


 

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